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DIE JÜDISCHE BEVÖLKERUNG IN GEROLSTEIN BIS 1945 (Auszüge)

von Christoph Stehr, Gerolstein

 

1.1 Die jüdische Gemeinde Gerolstein

Die jüdische Geschichte in Gerolstein lässt sich bis in das Jahr 1719 zurückverfolgen. Unter 800 Einwohnern in 172 Familien lebten zwei jüdische Familien.

Während im benachbarten Frankreich feudalistische Strukturen im Frühling aufklärerischer Gedanken abtauten, verharrte der Raum an Rhein und Mosel in der mittelalterlichen Ordnung. Jüdische Bürger mussten sich einer strengen Kontrolle der gesetzgebenden Landesherren beugen, wovon die Kurtrierische Judenordnung von 1723 (ergänzt 1725) zeugt. Jenes Papier mag mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass die jüdische Bevölkerungsentwicklung in Gerolstein nur stockend voranging. Erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zählte Gerolstein mehr als 20 Juden.

1892 wurde ein israelitischer Friedhof hinter dem Friedhof Sarresdorf genehmigt. Die Grabstätten sind jüdischem Brauch folgend nicht bepflanzt, sondern mit weißen Steinen bedeckt; dank regelmäßiger Pflege haben sie die Würde dieses Ortes bis heute be­wahrt. Von einer Neubelegung einzelner Grabstellen im Jahre 1975 blieb der jüdische Teil des Sarresdorfer Friedhofs verschont.

Ihren bescheidenen Anfängen in einer Zeit, die schon aus dem Gröbsten an mittelalterlichem Fanatismus heraus war und ihrem unauffälligen Wachstum (selbst der rasche Anstieg der jüdischen Bevölkerungszahl nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war "unauffällig") verdankte es die jüdische Gemeinde Gerolstein, dass ihre Mitglieder nicht in einer "Judengasse" ghettoisiert wurden.

Die Juden gaben jedoch nicht der Integration zuliebe ihre reli­giösen Bräuche auf. Pater Josef Böffgen erzählt, dass bei Beileids­besuchen in Häusern Gerolsteiner Juden der Kondolierende, Christ oder Jude, gebeten wurde, einen Nagel in den Sargdeckel des Toten zu schlagen ‑ so wie es der Habitus verlangte. Zu besonderen An­lässen, wichtigen Gottesdiensten oder hohen Festen, kam der Trierer Rabbiner - in den 20er und 30er Jahren Dr. Altmann ‑ nach Gerolstein. Mittelpunkt des religiösen Lebens war der Betsaal, der im Haus eines Gemeindemitglieds hergerichtet wurde. Nach 1930 stellte Ludwig Baum hierzu seinen Glaubensfreunden einen Raum seines Hauses in der Lindenstraße Nr. 13 zur Verfügung. Hermann Levy aus Hohenfels, ein Bruder Alexander Levys, war bis zu seinem Tod 1932 Vorbeter bei den Gottesdiensten. Der Bau einer Synagoge war geplant, das Grundstück unterhalb der Raderstraße in der Nähe des Hauses Dr. Linden bereits erworben. An der Vorbereitung des Projekts hatte Dr. Batti Dohm maßgeblichen Anteil. Seit 1925 stand Nathan Levy der Gemeinde Gerolstein vor, die im Reichsverband jüdischer Gemeinden Berlin organisiert und dem Rabbinatssitz Trier unterstellt war. Der Gemeinde Gerolstein gehörten alle Juden im Kreis Daun an.

 

1.2 Die jüdische Bevölkerung in Gerolstein und ihr Schicksal bis 1945

... Die von der nationalsozialistischen Herrschaft betroffenen jüdischen Familien in Gerolstein:

Im Jahr 1880 ließ sich Alexander Levy (geb. 1840) in Gerolstein nieder. Er kam aus Aach bei Trier und war verheiratet mit Helene Lewy (1836 ‑ 1921); ihre Kinder hießen Nathan (geb. 1870), Lazarus, Berta und Heimann.

Alexander Levy unterhielt in der Hauptstraße (heute Nr. 37) ein Manufakturwaren‑ und Lebensmittelgeschäft. Nebenan hatte er einen Hof mit Schuppen, in dem eine prächtige Kutsche und ein Pferde­schlitten standen, die zu Touristenausflügen benutzt wurden. Ge­genüber Hotel zur Post (Hotel zur Post heute Hauptstr. 33, Stil­möbel Buderath) besaß Herr Levy in zwei kleinen Häusern eine Limonadenfabrikation, ein Bierlager und eine Stallung, die 1909 in die Hände eines Herrn Daniels übergingen.

Lazarus und Heimann führten das Geschäft ihres Vaters nach seinem Tod 1920 fort. Die Steintreppe vor dem Eingang des Hauses trug ihnen den Beinamen "Levys op dr trapp" ein. Später teilten die Brüder ihren Besitz: Lazarus erhielt das Haus seines Vaters, Heimann den angrenzenden Bau, den sie 1908 von ihrem Bruder Nathan erworben hatten.

Mit seiner Frau Jeanne geb. Lippmann aus Forbach in Lothringen besorgte Heimann einen mäßig gewinnträchtigen Lebensmittelhandel. 1929 verkaufte er und siedelte mit Frau und den Kindern Josef, Elfriede, Irma und Otto nach Köln um. Heimann arbeitete dort als Kassierer, Josef kam in seinem erlernten Beruf als Bäcker unter. Irma und Otto ließen sich im Schneiderhandwerk ausbilden, und Josef wurde ein Opfer des Unrechtsregimes in Deutschland.

Seine Mutter floh 1938 mit Irma und Otto nach Frankreich; Heimann folgte im November. Kaum hatten sie sich in Limoges halbwegs ein­gelebt, als deutsche Truppen Frankreich besetzten. Irma und Otto schlossen sich dem Widerstand an.

Heimann, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte und noch immer an den Folgen einer schlimmen Kriegsverletzung litt, wurde deportiert und in einem Konzentrationslager ermordet. Jeanne hielt sich versteckt; sie wohnte nach dem Krieg mit ihren Kindern Irma und Otto in Paris. Otto heiratete, er hat einen Sohn.

...

Lazarus war verheiratet mit Rosa Wendel aus Beilstein an der Mosel. Tochter Else, ihr Gatte Lutz Seligmann und ihr Kind Doris wagten Ende der 30er Jahre einen neuen Anfang in den USA, New York. Doris erkrankte an Kinderlähmung, und trotz der daraus entstandenen le­benslangen Behinderung schaffte sie es, in das Management eines amerikanischen Großunternehmens aufzusteigen.

 


 


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Lazarus' Sohn Ernst war bei verschiedenen Handelsunternehmen in Mailand und Pirmasens beschäftigt. Um 1938 wanderte er nach Chicago aus. Er heiratete eine deutsch‑jüdische Emigrantin und hat eine Tochter.

Lazarus und Rosa blieben in Gerolstein, bis sie gezwungen waren, ihr Geschäft aufzugeben. Bei Verwandten in Trier fanden sie Unterkunft. Als sie Gerüchte von den ersten Deportationen hörten, kehrten sie nach Gerolstein zurück. Sie wohnten noch kurze Zeit bei Familie Levy in der Sarresdorfer Str. Nr. 21; schließlich wurden sie 1942 zusammen mit Nathan Levy, Johanna Adler und Ida Lewy deportiert. Sie sind umgekommen.

Berta Levy heiratete August Adler, einen Bruder Gertrud Adlers, der Frau Nathan Levys. Berta und August hatten vier Töchter, von denen zwei im Dritten Reich umgebracht wurden. Einer Tochter ge­lang mit Mann und Kind die Flucht in die USA.

Alexanders ältester Sohn Nathan baute 1900 in der Hauptstraße (heute Nr. 35, Bürobedarf Hoffmann) direkt unterhalb des Hauses seines Vaters ein zweistöckiges Wohn‑ und Geschäftsgebäude, in dessen Erdgeschoss Raum für ein Herrenkonfektionsgeschäft war. Auf der ersten Etage wohnte längere Zeit Wachtmeister Wimmer. Zwischen den Familien Wimmer und Levy bestand größte Freundschaft.

In der Nähe des Güterbahnhofs hatte Nathan Levy ein mehrstöckiges Lagergebäude, das er später an die Reichsbahn verkaufen musste, weil der Bahnhof erweitert werden sollte. Um 1908 trat Nathan Levy sein Haus Hauptstraße 35 an seine Brüder Lazarus und Heimann ab und kaufte den Neubau Bahnhofstraße Nr. 35 (heute Handarbeiten Knie der unmittelbar über dem Haus seines Vetters Albert Lewy lag. Hier vergrößerte Nathan sein Warenangebot um eine gut besuchte Schuh­abteilung.

In den Jahren 1912/13 baute Nathan in der Bahnhofstraße Nr. 12 das "Kölner Kaufhaus" (heute Buchhandlung Raabe), ein "gut sortiertes Geschäft verschiedener Branchen", in dem Kleidung, Schulbedarf, Kurzwaren, Porzellan, Lebensmittel, Spielzeug zu haben waren.

Aus seiner 1896 eingegangenen Ehe mit der Jüdin Gertrud Adler aus Zell/Mosel stammten die Kinder Sebald (geb. 1899), Julius (1902‑73) und Rosa.

Rosa heiratete 1925 den Juden Fritz Mansbach aus Bewerrengen/ Weser, an den die Geschäftsleitung des "Kölner Kaufhauses" fiel, nachdem sich Nathan Levy zur Ruhe gesetzt hatte. Herr Mansbach nahm mehrere Gelegenheiten zur Ausreise nicht wahr, weil er seine schwerkranke Schwiegermutter nicht ihrem Schicksal überlassen wollte. Pater Böffgen entnahm Gesprächen mit Moritz Levy, "dass Herr Mansbach in der Zeit der Verfolgung seinen Glaubens­genossen ein starker Halt war". Als finanziell bestgestelltes Mit­glied der jüdischen Gemeinde war er bevorzugtes Ziel häufiger Schikanen seitens Gestapo und NSDAP. Plakate mit der Aufschrift "Kauft nicht bei Juden" warnten auf der Hochbrücke und in der Bahnhofstraße vor dem Besuch des "Kölner Kaufhauses", Parteimitglieder überwachten den Ladeneingang.

 

Mansbachs Sohn Horst, später Siegfried genannt, musste November 1938 die Höhere Knabenschule Gerolstein, das St.-Matthiss-Gymnasium, verlassen. Zwei Jahre zuvor war Nathan Levy gezwungen worden, das "Kölner Kaufhaus" zu verkaufen. Sebald Levy, der als juristischer Berater seines Vaters auftrat, handelte für ihn das Recht aus, weiterhin in der ersten Etage des Gebäudes wohnen zu dürfen. Nach Abschluss des Vertrages wurde ihm dieses Recht verweigert. Aus Angst, plötzlich "auf der Straße zu sitzen", erwarb Nathan 1936 von dem Juden Moritz Herz dessen Haus Sarresdorfer Str. Nr. 21. Auf einer nahen Wiese hielt er eine Milchkuh, die der hungernden Familie Levy Käse und Butter lieferte. Nathan Levy, seine Frau Gertrud und deren Schwester Johanna Adler wurden 1942 deportiert.

Sie sind umgekommen, ebenso wie Fritz Mansbach, Frau Rosa und Kinder Horst und Inge (geb. 1926), die am 20. Februar 1943 depor­tiert wurden.

Der Inhalt eines Schreibens des 1946 im Amt befindlichen Gerolstei­ner Bürgermeisters, wonach Nathan Levy auch erst am 20.02.43 verschleppt worden sei, widerspricht der Darstellung Erna Meintrups, die glaubhaft erscheint. Catharina Ockenfels berichtet 1947 in einem Brief:

"...ich und viele Gerolsteiner vergessen nie den Tag, an dem die arme Familie Mansbach von hier fort musste. Rosa war an dem Nach­mittag noch bei mir und erzählte mir sehr aufgeregt, dass ein Freund ihres Mannes soeben verhaftet worden sei und sie befürchtete, es käme die Reihe an seine Familie, und es war tatsächlich so, als Rosa nach Hause kam, war die Polizei bereits dort, und alle vier mussten ins Gefängnis. Wir waren am Abendbrot, als die Küchentür aufging und Rosa und Fritz weinend hereinkamen. ...Der Transport, wo Familie Mansbach mit fort musste, ging nach Trier, dort nahm man die Kinder den Eltern fort. Das Geld, 50 M durften sie mitnehmen, nahm man ihnen ab. So ging der Zug seinem traurigen Ende entgegen, nach Polen, wo sie vergast wurden."

Nathans Sohn Sebald hielt sich seit 1910 nicht mehr in Gerolstein auf. Er eröffnete in Köln eine Praxis in Steuer‑ und Wirtschafts­beratung, die er im Januar 1936 aufgeben musste. Zwei Monate darauf emigrierte er nach Paraguay. Er lebt heute in Asunción.

Julius arbeitete seit 1932 in München und heiratete 1936 Hanna Leopold aus Honnef. In München wurden sie Zeugen der Ausschrei­tungen während der "Reichskristallnacht" in der Nacht vom 09.auf den 10.11.1938. Im Januar 1939 flohen sie (illegal) nach Paraguay, nachdem ihnen Sebald den sogenannten "Rufschein", die Einwande­rungsbewilligung (die inzwischen ungültig geworden war), beschafft hatte.

Sebaldo Levy erinnert sich an einen Bruder seines Großvaters Alexander, den er schlicht als "Onkel von Hohenfels" kennen lernte. Es handelt sich um Hermann Levy (1848 ‑ 1932), der um 1888 mit Frau Babette geb. Kaufmann (1859 ‑ 1929) nach Kalenborn, wenig später nach Hohenfels zog und dort eine Gastwirtschaft und ein Kolonialwarengeschäft betrieb.

 


 


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Sein Adoptivsohn Moritz war seit Mitte der 20er Jahre in Gerolstein ansässig. Er war Viehhändler und wohnte mit Frau und den Kindern Hugo, Emi und Hilde in einem kleinen Haus in der Frankenstein­straße. Hugo wanderte 1933 (1934?) nach Palästina aus, wo er bei der isra­elischen Handelsmarine Karriere machte. Emi und Hilde konnten dank finanzieller Hilfe der christlichen Bevölkerung bald nach­kommen. Hilde heiratete einen Schneidermeister, Emi einen Zahn­medizinstudenten, Herrn Gottdiener. Nach dem Krieg arbeitete Dr. Gottdiener als Zahnarzt in Köln.

1935 verkaufte Moritz Levy seinen bescheidenen Besitz an die jüdische Familie Alex Ermann und wurde vom katholischen Schuster Böffgen in dessen Haus im Märloch in der Unterstraße (heute Mühlenstraße) aufgenommen. Moritz Levy bestritt fortan als "Hau­sierer" seinen Lebensunterhalt. 1941 wurde er in das 150 Personen zwangsbeschäftigende Gerolsteiner Arbeitslager eingewiesen und zu schwerster körperlicher Arbeit in einem Steinbruch verpflichtet Er wurde 1942 deportiert; er ist umgekommen.

In den 80er Jahren folgte Hermann Lewy (1845 ‑ 1905) seiner Alexander Levy angetrauten Schwester Helene nach Gerolstein, wo sein Familienname irrtümlich die Schreibform Levy annahm.

Mit seiner Frau Mina, einer Schwester Alexander Levys, verkaufte er Manufakturwaren in einem kleinen Laden in der Hauptstraße, der sich, der Kirche zugewandt, an das Hotel Heck anlehnte. Auf dem Grundstück des im Krieg völlig zerstörten Hotels wurde ein Park­platz angelegt und die Normaluhr aufgestellt.

Hermanns Söhne Albert (geb. 1875) und Heinrich führten ein Reise­geschäft in Stoffen mit ausgedehntem Kundenkreis in der Nähe Prüms.

Der ältere Sohn Albert ließ sich in der Bahnhofstraße (heute Nr. 33, Schuhhaus Blaumeiser, Filiale) neben Hotel Kaiserhof ein modernes Wohn‑ und Geschäftshaus bauen, dessen Ladenlokal er an Drogerie Hopmann, dann an Drogerie Moog vermietete. 1939 verkaufte er unter Zwang sein Haus und quartierte sich bei Familie Mansbach in der Sarresdorfer Straße Nr. 21 ein. Als am 11.2.1940 Gestapo erschien, um ihn festzunehmen, beging er Selbstmord. Er erdrosselte sich in einer Schlinge, die er an einen Türgriff geknotet hatte. Seine Frau Ida geb. Grunewald aus Heilbronn wurde zusammen mit Nathan Levy 1942 deportiert. Sie ist umgekommen.

Die Töchter Erna (1906 ‑ 69) und Margot (geb. 1908) hatten um 1930 nach Münster geheiratet. Erna wurde in das Konzentrationslager Theresienstadt verschickt, obwohl sie zum Glauben ihres katholischen Gatten Robert Meintrup (gest. 1947) übergetreten und Mutter eines 12 Monate alten Jungen (Werner) war. Sie überwand Hunger, Krankheit, Prügel und kam 1945 aus dem Lager frei.

Werner ist verheiratet, hat drei Söhne und eine Tochter. Er ist Studienassessor in Münster.

 

Seine Tante Margot hatte im "Kölner Kaufhaus" als Verkäufern ge­arbeitet, bevor sie heiratete und 1936 nach Hartford, USA, aus­wanderte. Sie war dort in einem kaufmännischen Betrieb angestellt

Heinrich Levy lebte im Hause Dohm in der Burgstraße Nr. 12. 1928 nahm er Wohnung bei Polizist Meyer in der Gerolstraße Nr. 32. Er starb am 15.03.1934, 51 Jahre alt, an einer Erbkrankheit. Seine Frau, eine Schwester Jakob Hanaus, verließ mit Tochter Lotte den Ort; sie wechselten in die Stadt Köln über. Frau Lewy und Tochter Lotte wurden deportiert. Sie sind umgekommen.

Um 1880 tauchte Simon Baum (1847 ‑ 1923) aus Osann an der Mosel in Gerolstein auf. Sein Haus in der Sarresdorfer Straße nahe der evangelischen Kirche bot ausreichend Räumlichkeiten für einen schwungvollen Viehhandel, den er über die Kreise Daun und Prüm ausweitete.

Seine Kinder aus erster Ehe mit Johanna Kahn (1850 ‑ 96) waren Norbert, Ludwig, Erna, Rosa, Berta und Camillla. Die vier Töchter verbrachten lediglich ihre Jugend in Gerolstein; dann heirateten sie. Rosa und Camilla nach Paris, Erna nach St. Ingbert, Berta in die Nähe von Aachen. Berta und ihr Mann sind umgekommen. Sie hatten zwei Söhne, der eine lebt in Israel, der andere in Schweden.

Norbert Baum errichtete 1913 das Gebäude Bahnhofstr. Nr. 10. Die eine Hälfte des Erdgeschosses nutzte er als Ladenlokal für seine Metzgerei, die andere vermietete er ab 1919 an Herrn Reinhold, der hier sein Elektrogeschäft begründete. Norbert Baum starb 1932 (nicht 1934, wie es falsch auf seinem Grabstein steht) im Alter von 53 Jahren.

Frau Baum aus Merzig/Saar entschied, an der Fleischerei ihres Mannes festzuhalten. Ihr Sohn Ferdinand wanderte zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in die Schweiz aus, sein Bruder Sigmund zur gleichen Zeit nach Palästina. 1936 trennte sich Frau Baum auf Verlangen der Nazis von ihrem Besitz und zog mit ihrer Tochter Anne nach Köln. Anne fand 1938 in Palästina eine neue Bleibe. Wie ihr Bruder Sigmund hatte sie sich einem Kibbuz angeschlossen. Die verzweifelten Bemühungen der Geschwister, auch für ihre Mutter eine Einreisegenehmigung zu erwirken, scheiterten an dem nichtigen Umstand, dass sie an verschiedenen Orten in Pa­lästina lebten und arbeiteten. So gelang es nicht nachzuweisen, dass sie beide Angehörige derselben Familie waren. Allein dadurch jedoch hätten sie Anspruch auf Nachzug eines Verwandten der älteren, nicht mehr arbeitsfähigen Generation geltend machen können. Der junge Staat Israel hatte seine Einwanderungsbestimmungen dieser grausamen Mathematik unterworfen, um des Stroms von Asylanträgen Herr zu werden. Frau Baum starb beim Transport in ein Konzentra­tionslager.

 


 


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Ludwig Baum war verheiratet mit Martha Bick aus Graetz. Sie besaßen das Haus Lindenstraße Nr. 13 und vertrieben Felle und Metzgerei­artikel. Sohn Sigmund (geb. 1913) ging 1933 nach Köln, wo er als Straßenarbeiter Geld verdiente; er wurde mit Frau und Kind depor­tiert und ermordet. Sein Bruder Leo (geb. 1915) schiffte sich 1937 nach Südamerika ein. Er schuf sich im Landesinnern Paraguays in der Colonia Carlos Pfannel eine Existenz als Landwirt, eröffnete später aber eine Konditorei in der Hauptstadt. Er hat vier Töchter, zwei von ihnen sind verheiratet.

Seine Eltern verkauften ihr Haus in der Lindenstraße an die jüdische Kultusgemeinde Trier, die es an ein christliches Ehepaar Born weitervermittelte. Ludwig und Martha schlugen denselben Weg ein wie ihr Sohn Leo.

Simon Baums Kinder Adolf, Bernhard, Klara, Thekla und Ella aus zweiter Ehe mit Berta Ermann (gest. 1925?), deren Familie in Mehring/Mosel heimisch war, lebten in den Jahren nach der Macht­ergreifung Hitlers nicht mehr in Gerolstein. Adolf (1897 ‑ 1977?) heiratete 1922 ein Mädchen aus Trier und floh später nach Montevideo, Uruguay. Bernhard (gest. 1980) und Frau Hedwig, eine geb. Ermann aus Kyllburg, entkamen nach Paraguay; sie haben vier Kinder. Klara und ihr Ehemann Jakob Gottschalk aus Ahrweiler verunglückten mit zwei Töchtern auf der Überfahrt nach Palästina. Thekla fand in Dänemark Schutz vor der Verfolgung, Ella in Großbritannien.

In der Sarresdorfer Straße (neben dem evangelischen Pfarramt?) lebte der Vieh‑ und Pferdehändler Salomon Siegler. Er war um 1910 mit seiner Frau aus Kaisersesch zugezogen. Sie suchten in den USA eine zweite Heimat. Ihre Tochter Ruth schloss eine Ehe mit dem Juden Moritz Herz, der sich zu Anfang der 20er Jahre in Gerolstein eingefunden hatte. Wie sein Schwiegervater zog er im Ort einen lebhaften Viehhandel auf. Bevor er mit Frau Ruth und Kindern im Herbst 1936 in die USA auswanderte, verkaufte er sein Haus Sarresdorfer Straße Nr. 21 an Nathan Levy.

Zur gleichen Zeit wie Moritz Herz wurde der Viehhändler Michel Ermann (1873 ‑ 1936) aus Oberkeil bei Kyllburg Bürger der Stadt Gerolstein. Ihm gehörte ein Haus in der Lindenstraße, nahe der Drahtwarenfabrik.

Seine Frau in zweiter Ehe war Babatte geb. Ermann aus Trier. Nach Michels Tod setzte sie sich mit den Söhnen Moritz und Siegfried und Tochter Lina in die USA ab, was Sohn Theo, einem nicht in Gerolstein wohnhaften Kaufmann und den nach auswärts verheirateten Töchtern Amalia und Franziska ebenfalls gelang. Sohn Alfred emigrierte nach Palästina.

Das älteste Kind Michel Ermanns wurde Alex gerufen. Alex heiratete Irene Gottschalk, die vom Hunsrück kam; sie hatten eine Tochter. 1935 erstand Alex von Moritz Levy das Haus in der Frankensteinstraße; er führte dessen Viehhandel fort. Im Herbst 1936 wanderte er mit Familie nach Asunción aus, doch verlor er nicht nur die bekannte Umgebung, sondern auch seine innere Ruhe;

 

er gab Paraguay wieder auf, ging nach Buenos Aires, Argentinien, kehrte nach Deutschland zurück, hielt sich wenige Jahre in Bonn auf, nahm einen weiteren Anlauf in den USA.

Nach dem ersten Weltkrieg eröffneten zwei jüdische Schwestern Kahn ein Geschäft in der Hauptstraße gegenüber Hotel Heck. Drei oder vier Jahre darauf kamen die Juden Leo Mayer und Jakob Hanau aus dem Saarland nach Gerolstein. Sie heirateten je eine der Schwestern Kahn.

Jakob Hanau handelte mit Süßwaren in einem neu erbauten Haus in der Hauptstraße (heute Nr. 23, Videoladen) neben Hotel Moog. Sie verkauften ihr Hab und Gut im März 1936 und flohen "bei Nacht und Nebel", so die Umschreibung eines Zeugen, mit Sohn Edgar und Tochter Edith nach Lothringen. Sie entgingen der Verschleppung. Edgar Hanau lebt heute in Bouzonville/Lothringen, seine Schwester Edith in Paris. Das von Oskar Baum tatsächlich nach Frenkreich überwiesene Geld für das Haus Hauptstraße Nr. 23 erreichte die Hanaus allerdings nicht. Im Rahmen der Wiedergutmachung musste Herr Baum den Kaufpreis gegen Ende der 40er Jahre ein zweites Mal entrichten.

Leo Mayer erstellte in der Bahnhofstraße (heute Nr. 26, Haarpflege Laubenstein) einen Neubau, der ein Karamellen-En grosgeschäft be­herbergte. Herr Laubenstein erwarb das Gebäude, und Leo Mayer reiste mit Frau und Tochter in die USA aus. Ihr jüdischer Angestellter, Max Heyum, der nicht aus Gerolstein stammte, begleitete sie.

Um 1922 kaufte Ludwig Fränkel ein Haus im Märloch (heute Haus Hauptstraße Nr. 61, das Eckhaus unterhalb der Schlachterei Hermes). Ludwig Fränkel war Viehhändler. Er entkam mit Frau und zwei Töchtern nach New York.

Die Familie des Geheimrats Dr. Walbaum erlebte die Geburtsstunde der nationalsozialistischen Herrschaft nicht in Gerolstein. Dr. Walbaum stammte, wie auch seine Frau, aus Westfalen. Als junger Stabsarzt hatte er am deutsch‑französischen Krieg 1870/71 teil­genommen und sich anschließend als praktischer Arzt und Geburts­helfer in Gerolstein niedergelassen. Bei Ausbruch des 1. Welt­krieges wurde er zum örtlichen Garnisonsarzt berufen. 1921 zog er, der noch viele Jahre darauf als Nestor der Eifelärzte gelten sollte, sich aus seiner Praxis zurück. Er verbrachte den Lebensabend mit seiner Frau in ihrer westfälischen Heimatstadt. Ihr ältester Sohn hatte den Beruf des Vaters ergriffen und prakti­zierte in Hamburg. Sein Bruder Fritz arbeitete zu Beginn des ersten Weltkrieges als Ingenieur in Argentinien. Um sich zum Heeresdienst in Deutschland zu melden, trat er auf einem neutralen Schiff die Heimreise an, geriet aber in englische Gefangenschaft. Er konnte entkommen und gelangte über Holland nach Deutschland. Er starb im Krieg. Dr. Walbaums einzige Tochter heiratete einen Kaufmann. Ihr jüngster Bruder Ernst war im Handel tätig. Er überlebte das Dritte Reich.


 


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Zur Ergänzung seien kurz einige jüdische Familien außerhalb Gerolsteins genannt:

In Jünkerath erinnert man sich einer alteingesessenen Familie Rothschild, die eine Metzgerei besaß. Aus dieser Familie stammte ein Rothschild, der in Lissendorf mit Vieh handelte. In Stadtkyll lebten Juden gleichen Namens; einer von ihnen hieß mit Vornamen Mar (1882 ‑ 1915). Mar Rothschild liegt auf dem jüdischen Friedhof Gerolstein begraben.

Ein Nachkomme der Rothschilds erschien gleich nach dem Krieg wieder im Dorf und baute dort ein Speditionsunternehmen auf. In Glaadt bei Jünkerath kannte man eine Familie Marx. Nathan Marx hatte Frau und zwei Töchter, er war im Viehhandel tätig.

Ebenfalls vom Viehhandel lebte eine Familie Zimmermann in Hillesheim. Dort gab es auch zwei jüdische Brüder "Eugen" ‑ Viehhändler von Beruf.

In Kyllburg hatte die Gerolsteiner Familie Michel Ermann nahe Verwandte.

In Mürlenbach lebte eine jüdische Familie, die schon frühzeitig ausgewandert war.

Die erste antisemitische Aktion der neuen Regierung war der Aufruf vom 01.04.1933, die jüdischen Geschäfte im Reich zu boykottieren. Er fand in Gerolstein kein Echo.

Schon eine Woche darauf traten Gesetze in Kraft, die den wirtschaftlichen Spielraum jüdischer Kaufleute einschränken sollten. In der jüdischen Gemeinde Gerolstein, deren Gläubige ausschließlich vom Handel lebten, konnten sie ihre beabsichtigte restriktive Wirkung nicht verfehlen.

Schilder "Juden unerwünscht", "Kauft nicht bei Juden", "Juden dürfen nicht bedient werden", erschienen auf Anweisung der Kreispropagandaleitung Daun-Wittlich in Straßen und Geschäften Gerolsteins.

Die Gestapo Staatspolizeistelle Trier klärte in einer Verfügung vom 08.12.1936 den Nachfolger des 1933 abgewählten Dauner Landrats Liessem über die Tarnung jüdischer Geschäfte im Bezirk Trier auf:

"Vielfachen Berichten der letzten Zeit ist (zu) entnehmen, dass abgesehen von den angeblichen Gleichschaltungen die Versuche jüdischer Geschäftsinhaber, den wirklichen Charakter ihrer Unter­nehmen durch Machenschaften der verschiedensten Art zu tarnen, im Zunehmen begriffen sind So wurde wiederholt die Feststellung gemacht, dass Juden ihre Waren nicht unter eigenem, sondern mit Zustimmung arischer Angestellter unter deren Namen versenden."

Dass sich die jüdischen Händler in Gerolstein ähnlicher Winkelzüge bedienten, um die Isolierung ihrer kaufmännischen Tätigkeit aufzu­brechen, lässt sich nicht eindeutig bestätigen.

Konnten die einheimischen Juden in den ersten Jahren der Regierung Adolf Hitler ihren Geschäftsbetrieb noch einigermaßen aufrecht­erhalten, so hatte dies mit der 1937 eingeleiteten "Arisierung der Wirtschaft" ein Ende.

Manche Ladeninhaber wurden wie Nathan und Lazarus Levy zum Verkauf genötigt. Wem das zunächst erspart blieb, wartete vergebens auf Kunden;

 

dafür sorgten Mitglieder der NSDAP, die z. B. vor dem Eingang des "Kölner Kaufhauses" die Namen "arischer" Kunden notierten. Als Norbert Baum 1932 starb, wurde er, so schreibt Herr Sebaldo Levy, unter großen Ehren mit Beteiligung mehrerer Vereine, darunter Kriegerverein, mit Fahne und Musikkapelle und der für Kriegsteil­nehmer üblichen Abschiedssalve zu Grabe getragen.

1936, vier Jahre waren vergangen, begrub man Michel Ermann in aller Stille auf dem Gerolsteiner Judenfriedhof.

Catharina Ockenfels schildert nach Angaben Rosa Mansbachs, wie man die am 26.04.1938 erlassene "Verordnung über die Anmeldung des Vermögens der Juden" in Gerolstein handhabte: "Ihnen wurde von den Nazis gesagt, sie sollten eine Liste vom ganzen Vermögen aufstellen... Als die Liste eingereicht und na­türlich darauf alles angaben, ging man hin und beschlagnahmte alles... sogar Bügeleisen, Nähmaschine, Rasierapparat nahm man ihnen ab."

In der "Reichskristallnacht" vom 09. auf den 10.11.1938 inszenier­ten Einsatzgruppen der SA die Premiere einer Tragödie, die das "Nationalblatt Trier" sarkastisch mit der Schlagzeile "Volkszorn gegen das Judenpack... auch in Städten und Gemeinden des Westmarkgaues Koblenz-Trier" untertitelte. Die Einrichtung des "Kölner Kaufhauses" ging zu Bruch. Gegen 21.30 Uhr am 09. November stürmten SA‑Kräfte aus Bitburg die Wohnung der Familie Nathan Levy in der Sarresdorfer Straße. Sie sperrten die Bewohner in den Keller des Hauses, Radio, Teppiche, Gemälde, Kristall, fielen ihrer blinden Zerstörungswut zum Opfer. Die Eingeschlossenen hörten Pistolenschüsse. Nathan Levy und Fritz Mansbach wurden in "Schutzhaft" genommen, am fol­genden Tag wieder entlassen.

Bis zum Auswanderungsverbot vom 23.09.1941 emigrierten über zwanzig Juden aus Gerolstein, die meisten in die USA, einige nach Uruguay, Paraguay, Palästina. Ihr gesamtes Vermögen bis auf höchstens 200 RM wurde beschlagnahmt. In Europa fand sich keine neue Heimat für sie, weil die europäischen Staaten mit Ausnahme von Großbritannien einen Einwanderungsstopp verfügten. Die Einreise nach Südamerika wurde zunehmend schwieriger; wer sich z. B. in Paraguay niederlassen wollte, durfte dies nur im Landesinneren und unter der Auflage, Landwirtschaft zu betreiben. Nach der "Reichskristallnacht" nahm Paraguay, wie andere Staaten in Übersee auch, keine Asylanten mehr auf. Fast ihres gesamten beweglichen Eigentums beraubt, ohne Möglich­keit, Geld zu verdienen, waren die Gebliebenen wehrlos dem Mut­willen von Partei und SS ausgeliefert. Der Stadtrat musste sich dem Beispiel der größeren Städte anschließen und den Juden den Aufenthalt im öffentlichen Gemeindebad untersagen. Auf ihre Lebens­mittelkarten bekamen sie nur Brot, denn die Marken für Sonder­zuteilungen an Fett oder Kaffee waren herausgeschnitten worden. Ab dem 19. September 1941 verrichteten Fritz Mansbach und Moritz Levy Zwangsarbeit in einem Steinbruch bei Hohenfels. Inge Mans­bach, 15 Jahre alt, wurde in ein Mineralwasserwerk eingewiesen.


 


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Am 21. Juli 1942 wurde im Stadtrat Klage geführt, dass die jüdischen Bürger trotz einschlägiger Verbote zuweilen immer noch christliche Geschäfte beträten. Diese Beschwerde fand kaum Beachtung, da einer der Anwesenden versicherte, die Juden würden demnächst 'abgeschoben' womit 'das Problem' erledigt sei. Offensichtlich herrschten im Stadtrat nur wenige Zweifel darüber, welchem Schicksal die jüdi­schen Mitbürger entgegengingen. Ob dieses Wissen aus offiziellen Quellen herrührte, lässt sich nicht mehr zurückverfolgen. Doch auch ohne Kenntnis des Wortlauts der zahlreichen antisemitischen Gesetze und Verordnungen musste jeder Gerolsteiner erkennen, dass die Juden unschuldige Opfer eines brutalen staatlichen Terrors waren.

Was Catharina Ockenfels über den Abtransport der Familie Mansbach im Jahre 1943 aussagt, deckt sich mit Untersuchungsergebnissen zur allgemeinen Deportationspraxis in Rheinland‑Pfalz: "... die Juden wurden in der Regel in der Nacht vor dem Abtrans­port benachrichtigt und zwei Stunden später abgeholt... wenig Gepäck und Geld waren erlaubt... Die Wohnungen wurden versiegelt."

Catharina Ockenfels:

"Euer Hab und Gut (gemeint ist der Besitz der Familie Levy) (wurde) versteigert. Kein Gerolsteiner kaufte etwas. Nur Fremde kauften. Wertsachen waren keine mehr vorhanden."

Die 1942 deportierten Gerolsteiner Juden gelangten wahrscheinlich erst nach Polen, in die Umgebung von Lublin, so die Vermutung der jüdischen Kultusgemeinde Koblenz 1946, bevor sie in die eigent­lichen Vernichtungslager verschickt wurden. Mitte 1943 war Gerolstein "judenfrei".

 

2.1 Das Verhältnis zwischen Juden und Christen vor 1933

Mit dem Bau der Bahnverbindung Trier‑Köln 1870/71 öffnete sich Gerolstein der Moselregion und dem Ruhrgebiet. Die Strecke Daun-Andernach rückte den Ort in den Mittelpunkt eines später reich­verzweigten Eifeler Schienennetzes und über die Linie Prüm-St. Vith erschloss sich Gerolstein das belgische Grenzland.

Das Misstrauen der Bevölkerung gegen Dinge, die außerhalb der dörflichen Ordnung standen, wich unter dem Eindruck eines kräfti­gen wirtschaftlichen Aufschwunges. Der blühende Handel bot Chancen im Übermaß. Man begrüßte Neuansiedlungen als allgemeine Steigerung der wirtschaftlichen Potenz, von der alle profitierten. So fürchteten sich nur eingefleischte Pessimisten vor einer ab­sehbaren Verschärfung des Wettbewerbs im innerstädtischen Vieh‑ und Einzelhandel, als um 1900 jüdische Händler in Gerolstein heimisch wurden.

Aus der religiösen Konkurrenz erwuchsen ebenfalls keinerlei Kon­flikte. Zum einen, weil die Geistlichen der katholischen, wie der evangelischen Kirche immer auf

 

 Ausgleich zwischen den drei Kon­fessionen bedacht waren und dies auch von ihren Kirchgängern er­warteten. Ein Hinweis: Juden, Katholiken und Protestanten dankten Pastor Rader seine religiöse Mittlerrolle, indem sie ihm zum Silbernen Priesterjubiläum 1928 gemeinsam ein Esszimmer ausstatteten. Als Anne Baum 1934 Gerolstein verließ, bat Pastor Rader sie kurz vor ihrer Abreise zu sich, um ihr "Schalom!" zu wünschen und in hebräischen Worten Trost zu spenden. Zum anderen, weil die Juden die christliche Lehre respektierten und darüber hinaus sich außerordentlich engagierten. Die Familie Levy-Mansbach kleidete Jahr für Jahr ein Kind aus einer bedürftigen Familie zur Erstkommunion ein.

Die jüdischen Bürger fanden schnell ihren Platz in Gerolstein. Ihr Beruf, der Handel, lebte vom Umgang mit Menschen, so dass ihnen bald in den Augen der christlichen Bevölkerung nichts Fremdes mehr anhaftete. In jedem Verein waren sie vertreten, im Feuerwehr- ­und Kriegerverein, im Verein für Handel und Gewerbe, im Verschöne­rungsverein und im Kegelclub. Julius Levy spielte im SV 1919 Ge­rolstein Fußball, er war einige Jahre lang schnellster 100‑m‑Läufer im Kreis Daun. Fritz Mansbach regierte 1929 als Karnevalsprinz das närrische Volk. An freundschaftlichen Kontakten fehlte es nicht; Herr Sebaldo Levy erzählt von einem "riesigen alten Birnbaum", der hinter dem Haus seines Großvaters Alexander stand und "jedes Jahr so viel Früchte trug, dass alle Nachbarn davon abbekamen."

Dass es unter der Oberfläche dieses friedlichen Miteinanders un­ausgesprochene Vorurteile gab ‑ was sich ja nicht gegenseitig ausschließen muss ‑ ist möglich; sicher ist jedoch, dass die Christen gegen diese Vorurteile ankämpften. So sind sich Herr Levy, Frau Dohm, Herr Mohr und Pater Böffgen einig: "Das Verhältnis der Juden in Gerolstein zur christlichen Bevölkerung war ausgesprochen gut."

  

2.2 Die Konsequenzen der nationalsozialistischen Machtübernahme für das Miteinander von Juden und Christen

Ziel der antisemitischen Hetze in den Medien nach 1933 war es, den Rückhalt der Juden in der christlichen Bevölkerung auszu­höhlen, um ungestört die "Endlösung der Judenfrage" voranzutreiben. Ausführliche Informationen zur kritischen Lage auf dem Arbeits­markt, von der auch Gerolstein betroffen war, sollten das Kon­kurrenzdenken beleben.

Welcher Flut antijüdischer und "patriotischer" Propaganda die Gerolsteiner Bevölkerung bis Kriegsbeginn ausgesetzt war, zeigen folgende Schlagzeilen, die im Umfeld der "Reichskristallnacht", einem von der SA gesteuerten Pogrom, im Nationalblatt Trier zu lesen waren (der Trierische Volksfreund war damals verboten):

 

 


 


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5./6.11."Der 9. November ‑ Heldengedenktag des Deutschen Volkes -  Aufruf der Kreisleitung Trier der NSDAP zur Beflaggung mit Hakenkreuzfahnen"

8.11.    "Der 9. November ‑ Heldengedenktag des Deutschen Volkes ‑ Aufruf der Kreispropagandaleitungen des Trierer Landes zur Beflaggung mit Hakenkreuzfahnen", "Hinterhältiger jüdischer Mordanschlag" (gemeint ist das Attentat des Juden Grünspan auf den deutschen "Diplomaten Parteigenossen von Rath" in der Pariser Botschaft) "Kernspruch der NS‑ und Lehrertagung in Gerolstein: Alles für Deutschland"

9.11.    "Unsere Toten halten die ewige Welt"

            "Das Welturteil über den Mordjuden"

11.11.   "Italiens Juden ausgeschaltet"

            "Judenfeindliche Kundgebungen in aller Welt"

12.11.   "Das Judentum schoss auf das deutsche Volk"

14.11.   "Dr. Goebbels warnt das Weltjudentum: 'Der Jude muss raus"'

Der "arische" Deutsche musste überzeugt werden, wie verabscheuungs­würdig und gefährlich "der Jude" in Wahrheit doch sei. Einem ähnli­chen Zweck diente der staatliche Terror, der die jüdische Existenz als illegal kennzeichnen sollte. Er wurde in Gerolstein von wenigen bedingungslosen Nationalsozialisten praktiziert. Pater Josef belegt diese "wütenden Nazis", so Frau Dohms Kommentar, mit der Metapher von den "Schwarzen Schafen". Ihr unverhohlener Judenhass stieß beim größten Teil der Bevölkerung auf Ablehnung, und in ihrem Bemühen, die jüdischen Familien zu separieren, wurden sie selbst zu Außenseitern. Es waren niedrige Chargen in Partei und SS, die diesen starken physischen und psychischen Druck auf die Gerolsteiner Juden ausübten.

Ludwig Fränkel wähnte sich täglich in Lebensgefahr, wie seine Frau der Mutter von Pater Böffgen mitteilte. Frau Fränkel selbst fürchtete "jeden Tag auf offener Straße erschlagen zu werden". Bespitzelungen vergifteten das zwischenmenschliche Klima. Die Familien Fränkel und Hanau stahlen sich in aller Heimlichkeit davon, aus Angst, ein Denunziant könne ihre Flucht vereiteln. "Arier", die mit Juden sprachen, waren verdächtig. Pater Josef: "Frau Rosa Mansbach rief einmal auf dem Friedhof aus etwa 10 m Entfernung Frau Edith Moog zu, sie möge ihr doch etwas Stofffarbe gegen ein paar Eier aufs Grab legen. Selber zu Frau Moog hinzugehen und mit ihr zu sprechen, wagte sie nicht; es hätte beiden Schwierigkeiten bereiten können."

In dieser Phase der Verfolgung existierte kein "Verhältnis" mehr zwischen Gerolsteiner Juden und Christen. Die jüdischen Bürger waren vollkommen abgeschnitten vom Geschehen in Gerolstein. Ihre Häuser standen zwar im Ort, doch sie lebten wie außerhalb. Sie warteten in stummer Resignation, und 1942 erkannten sie, dass sie auf Deportation und Tod gewartet hatten.

 

2.3 Die Haltung der Gerolsteiner Christen 1933 ‑ 1945

Scheinbares Desinteresse kennzeichnete die Haltung vieler Ge­rolsteiner Beamten in der lokalen Judenfrage. Häufig nur gezwungenermaßen Mitglied der Partei waren sie einer besonders aufmerksamen Kontrolle durch den Herrschaftsapparat unterworfen. Ein unbedachtes Wort, davon waren sie überzeugt, hätte sie augenblicklich in Misskredit gebracht ‑ mit fatalen Folgen nicht nur für ihr Weiterkommen im Staatsdienst.

Einige der hiesigen Beamten jedoch gingen über das geforderte Maß an Loyalität dem Regime gegenüber hinaus und profilierten sich als brutale Ketzer gegen ihre jüdischen Mitbürger. Unter den Lehrern der Volksschule Gerolstein hingegen war dieser Typ des National­sozialisten nur als Ausnahme vertreten. Noch im Jahre 1936 saßen jüdische und christliche Kinder nebeneinander im Unterricht, ohne dass sie von den Gedanken des Rassismus infiziert worden waren. Lehrer Wandt besuchte regelmäßig mit seinen Schülern jüdische Fa­milien. Aus dieser Zeit stammt ein Klassenfoto, das beinahe symbolhaft das ungetrübte Verhältnis unter den Kindern in der Volksschule beleuchtet: Edith Hanau steht in der vordersten Reihe, von zwei christlichen Zwillingsschwestern eingerahmt.

Herr Mohr charakterisiert die Haltung der übrigen christlichen Be­völkerung: die meisten verhielten sich passiv, viele zeigten Mit­leid, einige halfen.

Schon das vergleichsweise schlechte Abschneiden der NSDAP bei der Reichstagswahl 1933 (248 Stimmen entsprechend 18,6 % der abgegebenen Stimmen) deutet an, welch zahlenmäßig dürftige Anhängerschaft die nationalsozialistischen und antisemitischen Verführer in Ge­rolstein um sich geschart hatten.

Selbst nach 1936/37 bekannten sich Gerolsteiner Christen zu ihren jüdischen Freunden. Viele halfen im Verborgenen, wie Catharina Ockenfels weiß. Frau Weyand, die in der Bahnhofstraße ein Lebens­mittelgeschäft hatte, gab (ebenso wie Bäcker Böffgen) wiederholt  Waren an Rosa Mansbach ab, obwohl dieser die nötigen Marken fehlten. "Cathrinchen" Udelhofen bewahrte Bett‑ und Tafelwäsche der Familie Lewy vor der Zwangsversteigerung und sandte sie 1945 an die über­lebende Erna Meintrup. Personen, die unerkannt bleiben wollten, schoben nachts Lebensmittelkarten unter den Haustüren jüdischer Bürger hindurch. Gerolsteiner Christen finanzierten die Ausreise von Moritz Levys Töchtern. Alex Ermann eignete sich "in Abend­stunden" bei Schuster Grün Grundbegriffe des Schusterhandwerks an, um in Paraguay einen Beruf zu haben. Offene Unterstützung erfuhren jüdische Familien selten. Da war Lehrer Wandt, der bereits erwähnt wurde. Da war Schuster Böffgen, Pater Josefs Vater, der Moritz Levy bis zuletzt Unterkunft ge­währte, obwohl Parteifunktionäre ihm dies unter Strafandrohung verboten. Da waren Pfarrer Wiebel und Schwester Edmée von der evangelischen Kirche, die sich um Familie Mansbach kümmerten, nach­dem diese ihr Haus neben der Kirche bezogen hatte. Pfarrer Wiebel schreibt:

 
 


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"Nebenan wohnte die jüdische Familie Mansbach, zu der der kleine Siegfried (Horst) gehörte. Schwester Edmée gab der verstoßenen Familie ihre Lebensmittelkarten her, und als der Junge von der Schule ausgeschlossen war, nahm sie sich seiner an, ließ ihn auf dem Kirchplatz spielen, die Glocken läuten und die Kirche besorgen. So empfingen wir Dienste von dem Volk her, das uns Jesus, den Christus, geschenkt hat. Als dann die ganze jüdische Familie in den Tod geführt wurde, an der Erlöserkirche vorbei, blieb eine Lücke, die uns sehr bedrückte".

Allein Pfarrer Wiebel begleitete, flankiert von bewaffneten Polizisten, die Familie Mansbach zum Bahnhof, wo sie ihre Fahrt nach Polen, in die Konzentrationslager, antrat.

Catharina Ockenfels: "Ganz Gerolstein weinte, als Deine Eltern, Onkel und Tanten (Familie Nathan Levy) fort mussten... wenn Du wüsstest, wie viel Gutes von den Gerolsteinern über die lieben Taten von Euch gesprochen würde... Hier wartet man mit Sehnsucht auf Euch".

 

Nachwort

Von den Gerolsteiner Juden, die die Katastrophe überlebt hatten, kehrten einige zurück auf Besuch. Ludwig Baum, Mitte der sechziger Jahre, Julius Levy noch als hochbetagter Mann, Margot Lewy, Bernhard Baum, Sebald Levy 1965. Sie waren ohne Vorwürfe gegen ihre alten Nachbarn. Bis 1946 war keiner der ehemals im Kreis Daun wohnhaften Juden wieder in seiner Heimat eingetroffen.

Im Schatten ärgsten Terrors und Denunziantentums der nationalso­zialistischen Zeit verkümmerten viele Freundschaften zwischen Christen und Juden in Gerolstein. Aber man vergaß sich nicht. Je unmissverständlicher und gewalttätiger staatliche Organe die Würde und das Leben jüdischer Menschen verletzten, desto entschie­dener wuchs die stille Anteilnahme der Bevölkerung. Zwar erlaubten die dreisten Nachstellungen der Gestapo keine umfangreiche Hilfe, doch in diesem Rahmen taten sie, die helfen wollten, das Menschen­mögliche.

Ich kenne den Nationalsozialismus, jene Zeit, die von der Geißel unvorstellbaren Terrors entstellt wurde, nur aus zweiter und dritter Hand. Trotzdem verzichte ich nicht darauf, an dieser Stelle mein subjektives Urteil zur Diskussion zu stellen: der größte Teil der christlichen Bevölkerung Gerolsteins war in seinem Verhalten in der lokalen Judenfrage der Jahre 1933 ‑ 1945 frei von jeglicher Aggression, frei von Schuld, erfüllt von Mitleid oder aktiver Anteilnahme.

 

 

Der Aufsatz ist erschienen 1986 in der Schriftenreihe "Um Munterley und Löwenburg"

Dem Text liegt eine Facharbeit aus dem Jahre 1981 zugrunde.

Bilder der erwähnten Personen finden Sie auf der Seite
Gerolsteiner Juden (fotografiert von Fredy Lange)

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